Wien hat ein ausgeklügtes System seiner Linien, durch das man praktisch sofort erkennen kann, wo in der Stadt man sich befindet. Doch wie kam es dazu?
Das rasch wachsende Streckennetz der Pferdebahn machte es erforderlich den Fahrgästen den Laufweg der Wagen kenntlich zu machen. Dies erfolgte durch Angabe der Endstationen und der wichtigsten Ziele im Verlauf der Strecke auf Tafeln die seitlich am Dachkranz der Wagen angebracht waren. Als Hauptstadt des Vielvölkerstaates wies Wien eine beträchtliche Anzahl von Einwohnern aus den Kronländern auf, die der deutschen Sprache nicht mächtig war und auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Analphabetentum allgegenwärtig. Man entschloss sich daher im Jahre 1874 zu einer zusätzlichen Signalisierung in Form von kleinen Scheiben mit farbigen Symbolen die an Dachleuchten angebracht waren. Jedes Symbol entsprach dabei einer bestimmten Endstation. Diese als Hieroglyphensignale in die Tramwaygeschichte eingegangene Einrichtung fand auch noch am Beginn des elektrischen Betriebes Verwendung. Das stetig wachsende Netz mit zahlreichen Linienverflechtungen verlangte aber bald nach einem übersichtlicheren System, sodass eine gänzliche Neuordnung geschaffen werden musste, die im Jahre 1907 in Kraft trat. Entsprechend der Einteilung der Stadt in die einzelnen Bezirke und den Verlauf der wichtigsten Verkehrsmagistralen schien nachfolgende Gliederung am zweckmäßigsten:
Rundlinien
Nummerngruppe 1 bis 20
Diese verkehren in kreisförmigen Abschnitten um die Innenstadt
Radiallinien
Nummerngruppe 21 bis 82
Diese verkehren von der Innenstadt Richtung stadtaus- oder stadteinwärts. Ausgehend von der sogenannten „Direktionslinie“ die der Achse Praterstraße – Ausstellungsstraße – Elderschplatz entspricht, erfolgt die Nummerierung gegen den Uhrzeigersinn in aufsteigender Reihenfolge
Duchgangslinien
Buchstabengruppe A bis Z
Diese stellen die Verbindung zwischen einer Rundlinie und einer oder zwei Radiallinien her. Die Bezeichnung beginnt ebenfalls ausgehend von der Direktionslinie gegen den Uhrzeigersinn in aufsteigender Reihenfolge.
Zur besseren Unterscheidung waren weitere Unterteilungen zweckmäßig die im Laufe der Zeit zu folgendem ausgeklügelten System führten:
Durchgangslinien, die wechselweise über Ring oder Kai verkehrten, erhielten nach dem Linienbuchstaben ein etwas kleineres R für Ring bzw. ein K für Kai nachgestellt, z.B. AK für Kai-Ring und AR für Ring-Kai. Die Zusatzbezeichnung durch das R unterblieb aber bereits nach kurzer Zeit, da alle Linien ohne Zusatz grundsätzlich über Ring verkehrten.
Erst im Jahre 1938 kehrte das R wieder zurück, als die Radiallinie 24 zu Verstärkungsfahrten im Bäderverkehr über Ring-Kai bzw. Kai-Ring geführt und als 24R bzw. 24K bezeichnet wurden.
Durchgangslinien, die über andere Rundlinien verkehrten, erhielten die jeweilige Strecke nach den Buchstaben angehängt, z.B. H2 über Zweierlinie, sowie Z8 und S18 über Gürtel.
Linien, die im ursprünglichen System noch nicht vorgesehen waren, erhielten der Stammlinie, von der sie abzweigten oder weiterführten, ein kleineres A nachgestellt, z.B. 41A Gersthof – Herbeckstraße.
Linienverlängerungen wurden später durch das Vorsetzen einer Hunderterstelle vor die Stammlinie gekennzeichnet, z.B. 67 Kärnter Straße – Lehmgasse und 167 Lehmgasse – Oberlaa-Rothneusiedl. Sonderstellungen nahmen die ehemaligen Dampftramwaylinien ein, die mit Zwei- bzw. Dreihunderterstellen unterteilt wurden, z.B. 31 bis Floridsdorf-Lokomotivfabrik, 231 bis Groß-Jedlersdorf und 331 bis Stammersdorf.
Garnituren, welche nicht über den gesamten Linienverlauf verkehrten, erhielten einen Abdeckbalken schräg über das Liniensignal gestellt, z.B. 5 Mariahilfer Straße – Praterstern und 5 Stadtbahn Josefstädter Straße – Wallensteinplatz
Ab 1928 erhielten neu eingeführte Durchgangslinien durch Schrägstrich getrennte Doppelnummern, z.B. 8/36 oder 31/5. Dieser Usus wurde später auch bei der Bezeichnung von Linienverknüpfungen angewendet, z.B. 45/46 oder 60/62.
Dieses System findet in den Grundzügen noch heute Anwendung, obwohl es durch die Ausdehnung des Autobusnetzes bereits etwas verwässert wurde und einige Inkonsequenzen bestehen. Städtische Autobuslinien führen seit mehreren Jahren generell hinter der Linienbezeichnung ein A oder B, sodass eine eindeutige Unterscheidung zum Netz der Straßenbahn gegeben ist.
Die Signalisierung der Linien erfolgte ursprünglich in Form von schwarz lackierten Blechscheiben mit einem Durchmesser von 35 Zentimetern, aus denen die Lettern der jeweiligen Linie ausgeschnitten waren. Diese wurden auf die mit einer Milchglasscheibe versehenen Dachsignale der Triebwagen aufgesteckt und wiesen somit bei Tag und Nacht eine gute Lesbarkeit auf.
Zur vielseitigeren Verwendung auf mehreren Linien verfügten manche Signalscheiben über raffinierte Mechanismen. So konnten etwa die Scheiben der Linie 117 durch Abdeckbalken auf 17 umgestellt werden. Abdecksegmente befanden sich auf den Signalen der Linien 317, 331 und 360, durch deren Umlegen aus dem Dreier ein Zweier wurde und die Einsetzbarkeit auf den Linien 217, 231 und 260 gegeben war. Auf der zu Verstärkungszwecken einstmals in der Hauptverkehrszeit über Ring und Kai geführten Radiallinie 25 fanden Scheiben Verwendung, die über Klappen verfügten und die Signalisierung der Linien 25, 25R und 25K ermöglichten.
Ab dem Jahre 1949 kamen sogenannte Zweisicht-Dachsignale zur Anwendung, die auch von der Seite lesbar waren. Diese Einrichtung bewährte sich derart gut, dass sie noch bis in unsere Tage angewandt wird. Erst seit 1978 sind Würfelsignale mit Brosebändern an den Neubautriebwagen im Einsatz und die großen Matrixanzeigen der Niederflurtriebwagen machten die Dachsignale überhaupt entbehrlich.